Der letzte Tag

Dieser Text soll Mut machen und Hoffnung geben. Er ist für alle, die ähnliches durchmachen müssen oder erlebt haben. Das Leben geht weiter und das Leben ist schön. Denkt immer daran!

Es ist mir sehr schwergefallen, den richtigen Anfang für diesen Text zu finden. Wo fängt man an, wenn alles zusammenhängt? Der Moment, in dem sich mein Leben grundlegend geändert hat. Ich war 19 Jahre alt, da stand meine Welt still. Um genau zu sein, stand sie schon die eineinhalb Jahre davor still. Seit dem Moment, an dem meine Mama mir erklärt hat, der Krebs ist zurück. Er ist einfach wiedergekommen. Wie ein ungebetener Gast hat er sich wieder in unser Leben gesetzt. Ich kann mir ein Leben ohne diese Krankheit gar nicht vorstellen. Irgendwie hat er schon immer dazu gehört. Und wir hatten fast schon keine Angst mehr davor. Wenn man ungeliebte Dinge oder Probleme akzeptiert, kann man irgendwie ganz gut damit leben. Aber dieses Mal war es anders. Es war schon in dem Moment, als sie es ausgesprochen hat, bedrohlicher. Ich konnte es damals nicht verstehen, warum es ausgerechnet uns passieren muss. Wieso meine Mama? Ich empfand es als eine unbeschreibliche Ungerechtigkeit. Ich bin davor weggerannt – konnte all das Leiden nicht ertragen. Die Hoffnung, dass es doch noch ein Wunder geben wird. Meine Mama hat mir immer das Gefühl gegeben, kein Tag ist umsonst – egal wie schrecklich er auch war. Sie hat es mit einer unfassbaren Würde getragen. Ich mit weitaus weniger. Hätte ich nicht meinen damaligen Freund, seine Familie und meine Freunde um mich gehabt – ich weiß nicht, ob ich es so überstanden hätte. Die Zeit kommt mir heute wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es nicht mal zwei Jahre. Es gab unzählige Höhen und Tiefen.

An einen ganz besonderen Moment erinnere ich mich noch sehr genau. Ich saß mit meiner Mama draußen im Garten und wir unterhielten uns über alles mögliche – belangloses. Plötzlich fing sie an laut zu lachen. Ich sah sie verwundert an und fragte sie, was denn jetzt bitte so lustig sei. Sie sah mich an und sagte: „Ich muss gerade daran denken, wie ich früher als du klein warst, die Süßigkeiten versteckt habe und ich dich dann heimlich beobachtet habe, wie du danach gesucht hast.“ Sofort wusste ich wovon sie sprach – ich habe wirklich jede einzelne Schublade im Haus durchsucht. Ich musste laut mitlachen bei der Vorstellung, wie sie mich bei meiner Suchaktion beobachtete.  Sie nahm meine Hand und sagte: „Erinnere dich an diese tollen Geschichten. Sie werden dich immer an mich erinnern.“ Diesen Moment habe ich bis ins Detail abgespeichert.

Und nach all den Monaten des Kämpfens, des Hoffens und des Lebens kam der Moment des Loslassens.

Ich bin mir ganz sicher, es gibt keinen schwereren Moment, als einen geliebten Menschen gehen zu lassen. In dem Moment als meine Mama diese Welt verlassen hat, ist ein Teil von mir mit ihr gegangen – meine Unbeschwertheit. Lange habe ich versucht, diese wieder zu finden. Aber es ist okay, sie hat meine Leichtigkeit damals gebraucht, um weiter fliegen zu können. Dafür hat sie mir so vieles dagelassen. Ihre Stärke, ihre Lebensfreude, ihren Mut und ihren Optimismus. Diese Eigenschaften haben mich durch viele sehr schwere Tage getragen. Oft hatte ich Angst, man sieht mir diesen Verlust und meine Verletzlichkeit an. Ich habe mir oft gewünscht, zu sein wie die anderen. Meine Mama anrufen zu können, wenn mich etwas bedrückt. Mir meine Sorgen und Ängste von ihr nehmen zu lassen. Bei wichtigen Entscheidungen ihren Rat zu hören. Es gibt so viele Momente, da denke ich noch heute, dass sie die erste Person wäre, die ich anrufen würde.

Ich sehe sie heute vor mir, als wäre sie nie gegangen. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an sie denke. Manchmal höre ich sogar ihre Stimme. Ich habe manchmal das Gefühl, sie ist zu meinem Bauchgefühl geworden, das mir den Weg zeigt. Denn keine Worte können das beschreiben, was sie für mich war. Sie hat mir alles gegeben, was ich für ein gutes Leben gebraucht habe. Sie hat mir immer eine Orientierung gegeben, hat mich durch meine Kindheit und Jugend geführt. Sie hat nie den Kontakt zu mir verloren, auch als sie schon sehr krank war. Nicht einen einzigen Tag in meinem Leben, habe ich an ihrer Liebe für mich gezweifelt. Alles was ich heute bin, verdanke ich zum großen Teil ihr. Und so schwer es war sie gehen zu lassen – sie hat mir immer das Gefühl gegeben, ich darf auch ohne sie glücklich sein.

Diese Zeilen möchte ich euch ganz besonders mitgeben. Auch für mich ging das Leben weiter. Und ich finde es so unglaublich schön. Immer wenn ich schöne Dinge erlebe, denke ich an sie. An alle, die einen Verlust erleben müssen. Ihr seid deshalb nicht schwächer, angreifbarer oder verletzlicher. Ihr seid stärker und dankbarer. Vielleicht lebt ihr das Leben etwas intensiver, weil ihr eben wisst: nichts bleibt für immer.

Mama, du fehlst mir.

ich